Dienstag, 22. Januar 2013


 

Papiertheater im 21. Jahrhundert:
Eine Aufführung von  Ulrich Chmel
„Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen“

                                                                                                       
nach Hans Christian Andersen  
                                                                                                                             am 9. November 2012 um 16:00
                                                                                                                             im  Bezirksmuseum Wieden
                                                                                                                             Spielzeit 35 min.

von Inge Mansky bac.

Als  „kleine Hausübung“  – eine sachliche Figurentheater-Aufführungsanalyse –Welche sie im Rahmen ihres Studiums der Theatergeschichte zur Übung schreiben musste


Wie klein die Theater-Welt sein kann.
Das Papiertheater  – die Bühnenwelt en miniature!
Als Zimmer- und Familientheater, als Tischtheater, war das Papiertheater ein Theaterphänomen des 19. Jahrhunderts (und weitgehend nur des 19. Jahrhunderts) und für Aufstellungen und Aufführungen im Wohnbereich gedacht. Dieses „allerzierlichste Theater“,[1] das „bescheidenste aller Puppentheater“[2],  wurde in Form von Ausschneidebögen, zunächst vorwiegend für ein erwachsenes Publikum, in Massenauflage produziert. Das Repertoire der großen Theaterhäuser wurde übernommen und die Szenerien, Schauspieler, Kostüme wurden gleich nach der Premiere detailgetreu nachgezeichnet.
Erst in den späteren Jahrzehnten des Jahrhunderts wurde aus dem Papiertheater explizit auch ein Kindertheater:
Märchenstoffe wurden in das Programm der Verlage  aufgenommen und die Dramentexte in den  beiliegenden Heften zum besseren Verständnis und Nachspielen auf (vermeintlich) kindgerechtes Niveau gebracht. Diese Texte wurden mit „Regiewinken“ für die „kleinen Principale“ versehen, die sich allerdings mitunter haarsträubend lesen: „Tanzende Flammen stellt ihr folgendermaßen her: Ihr bindet an das Ende eines längeren Stückes Draht kleine Kügelchen von Watte, taucht dieselben in Spiritus  und zündet diesen an. Dann laßt ihr diese Flammen von oben  herab auf der Bühne tanzen.“[3]

Weniger gefährlich geht es im November 2012 bei der Papiertheater-Aufführung „Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen“ des freien Papiertheater-Künstlers Ulrich Chmel zu. Sie findet nicht im privaten Rahmen, sondern öffentlich, in einem Raum des  Bezirksmuseums Wieden statt.


Foto: U.Chmel

Das angekündigte Stück „Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen“  nach Hans Christian Andersen zielt auf ein kindliches Publikum:  „ab 4 Jahren“. Dieses  ist allerdings in der Minderzahl – lediglich 5 der ca 30 BesucherInnen sind Kinder. Die Vorstellung ist voll besetzt wie fast alle Aufführungen von Ulrich Chmel. Der Eintritt ist frei, etwaige kleine Spenden sind willkommen.

Der Raum entspricht mit ungefähr 50m2 durchaus nur der Größe des großbürgerlichen Wohnzimmers von einst. Einige wenige Sitzreihen sind vorbereitet, an der Stirnseite des Raumes ist ein dekorierter  Guckkastenbühnen-Aufbau zu sehen, nicht größer als ein moderner Fernseh-Apparat. Um dieses  Théâtre en miniature  auch aus einer Entfernung von einigen Metern im Detail verfolgen zu können, werden – eine großartige Idee! – Theatergucker verteilt.
Der Spielleiter begrüßt vor der Bühne stehend persönlich die BesucherInnen, gibt einstimmende Erklärungen zum Stück und verspricht allen Interessierten nach der Vorstellung Einblick in das „back stage“ Geschehen und eine Erklärung der Bühnentechnik. Unsichtbar während der ganzen Aufführung, wird es an ihm liegen, die flachen kleinen Figuren glaubhaft zum Leben zu erwecken. Das ist nicht einfach.

Innerhalb des Angebots von Figurentheateraufführungen sind Papiertheater-Vorstellungen eine Rarität. Denn das Medium Papiertheater erscheint undankbar, weil die Flächigkeit der Papierfiguren im Vergleich zur Körperhaftigkeit plastischer Figuren den Aufbau von Illusionen erschwert.
Keineswegs schwebend und „antigrav“[4], sondern in nur einer Haltung fixiert, sind die Papierfiguren an einer Boden-Schiene montiert und nur schiebend in einfachste Bewegungen (seitlich vor und zurück) versetzbar. So bleibt das Bewegungsspektrum zweidimensional und die Fortbewegung der Figuren wirkt vergleichsweise mechanisch. Ein Erspielen des Bühnenraumes ist nur beschränkt möglich.


Ulrich Chmels Erfahrung hinsichtlich der ZuschauerInnen-Rezeption bestätigt ein solches Manko der Papierfiguren nicht. Er meint, dass heutiges Papiertheater ein Publikum „bespielt“, welches nicht regelmäßig wiederkommen würde, ginge nicht ein lebendiger Zauber von der besuchten Bühne aus. [5]
Chmels Theaterbegriff entspricht dem des 19. Jahrhunderts hinsichtlich der visuell realistischen und menschenähnlichen Ausgestaltung der Figuren sowie des Bühnentypus (Rahmen, Seitenteile, Prospekt). Somit folgt Ulrich Chmel  in der konventionellen Gestaltung der Bühne und der Figuren, welche er selbst entwirft, bemalt und ausschneidet, ganz dem historischen Vorbild.[6]
Doch Ulrich Chmel erzählt, dass an ihn  nach seinen Vorstellungen gerade deshalb oft Dankesworte herangebracht wurden: „Die Menschen waren dankbar, weil sie nach vielen Jahren wieder eine romantische (am 19. Jahrhundert orientierte) Inszenierung erleben durften.“[7]  Die erste Reaktion nach dem Öffnen des Vorhangs ist bei vielen Vorführungen (so auch bei dieser) demgemäß  ein allgemein gehauchtes „Ohh“ und „Jööö“ angesichts der leuchtenden märchenhaften Bühne.[8]
  Vielleicht sind es seine Fähigkeiten als Theatermacher/Spielleiter, durch die Ulrich Chmel sein  „Schwefelhölzchen-Mädchen“-Publikum optisch und akustisch „verzaubert“:
Foto: Alexandra Hager
Zu sehen und erleben sind detailfreudig gezeichnete, hübsche Bühnenbilder (Nachdrucke des dänischen Papiertheaterverlages „Priors Dukketeatre, aus dem 19. Jahrhundert)[C1] , gut einstudierte Lichtregie und Beleuchtungseffekte, Musikeinspielungen, Geräuschkulissen, Ausnutzen der kleinsten Bewegungsmöglichkeiten, Versatzstücke und allerhand wunderbare Bühnenzaubereien,  wie das Aufleuchten und Erlöschen der winzigen Schwefelhölzer entsprechend dem Fortgang der Erzählung; oder der glitzernde Schnee, der langsam auf den Stadtplatz und das arme Mädchen fällt.
Grafik und Foto: U.Chmel
 
Das von Ulrich Chmel gezeichnete Schlussbild ist ein zarter Versuch, die zuschauenden Kinder (und natürlich auch die Erwachsenen) zu trösten: Der Tod des Mädchens durch Erfrieren wird nicht ausgespart, aber durch eine starke bildliche Vision des Mädchens von seiner verstorbenen Großmutter, die ihre Enkelin in ihrer warmen, heimeligen blau-weißen Küche mit Liebe und offenen Armen willkommen heißt, weich verschleiert.
Es ist vor allem die modulationsfähige Stimme, die, ohne übertrieben zu deklamieren, den Flach-figuren trotz ihrer nur minimal möglichen Bewegungen Leben einhaucht, und sie für das Publikum zu glaubhaften Handlungsträgern animiert.

Aus Andersens klassischem Märchentext  „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“  entwickelt Chmel seinen Text, den er, wie er sagt, „lustvoll“ mit den von ihm erarbeiteten künstlerischen Bühnenbildlösungen verbindet. Er „werkt an einem Stück ungefähr ein Jahr und länger“, bis er „es aufführen und damit Emotionen beim Publikum erzeugen kann.“[9] 
„Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen“ wird als  ernstes Stück  ernst  gespielt. Der Stoff wird textgetreu, ohne  Ironie und Verfremdung, kontrolliert nacherzählt.
Der Spielleiter erliegt nicht der Versuchung, durch Übertreibung des Mädchen-Schicksals das Publikum emotional zu stark zu lenken, und vermeidet auch eine vielleicht naheliegende platte Psychologisierung der Charaktere und soziale Kategorisierungen wie „die bösen Reichen“, „die gedankenlosen Vergnügungssucher“.

Erfreulicherweise  gibt es auch  keinen moralisch-ideologischen Fingerzeig auf die aktuell reale Existenz von armen Kindern, Obdachlosen und Flüchtlingen. Keine Unterbrechung, kein Kommentar oder Appell von Ulrich Chmel unterbricht oder kontaminiert die Nacherzählung!
Dies steht im Gegensatz zum historischen Pendant des Papiertheaters für Kinder mit seinen,  dem Zeitgeist des 19. Jahrhunderts geschuldeten erzieherischen Absichten: „Mehr als ein Stück schließt mit einem religiösen Gedanken, einem Gelübde, einer Mahnung oder einer Lebensweisheit. […] und die Idee der Belohnung kommt hinzu.“ Zum Beispiel: „Wer Tugend übt und Frömmigkeit, Für den liegt hoher Lohn bereit.“[10] oder (nachdem Hans durch Knecht Rupprecht eine Freistelle auf der Knabenschule erhält) „Ei! jetzt ist mein liebster Wunsch erfüllt. Nach Herzenslust kann ich nun lernen und studieren und hoffe, dereinst ein brauchbarer Mann zu werden.“[11]
Der Ablauf der Aufführung ist professionell. Es kommt zu keinen technischen Missgeschicken.
Das Publikum spürt die Energie, die von der Bühne kommt und offensichtlich treffen sich die Erwartungen des erwachsenen  Publikums an diese Vorführung mit den Intentionen des Spielleiters. Die wenigen Kinder an diesem Nachmittag sitzen zu isoliert und verhalten sich  zu ruhig, um aufgrund ihrer Äußerungen interpretiert werden zu können. So beweisen die ZuschauerInnen mit ihren Reaktionen und dem Schlussapplaus, dass sie, sanft beglückt[12] und ohne jede Verstörung, ihrer Erinnerung an das bekannte Märchen versichert wurden, und sich bereitwillig auf die angenehmen visuellen und akustischen Illusionierungen  eingelassen haben.
Abschließend stellt sich die generelle Frage nach dem Befinden des Papiertheaters in der Theaterwelt des 21. Jahrhunderts.

Ulrich Chmel spricht von einer aktuellen Formenvielfalt, von der Regellosigkeit  und von unterschiedlichsten künstlerischen Konzepten  in diesem Bereich; und er beschreibt  die Bandbreite der zeitgenössischen Szene der internationalen PapiertheaterspielerInnen – schöner kann man es nicht sagen:


 „Die Frauen und Männer, die in Europa Papiertheater spielen, haben jede und jeder für sich eine eigene Art und Spielweise entwickelt, um ihre Zuschauer in das Reich der Phantasie zu entführen. Jene spielen eisern nach der „Papiertheater-Tradition“, in dem sie ausschneiden was vorhanden ist und den Text lesen der dazugehört. Punkt! Da gibt es auch welche, die absurdes zeitgenössisches Theater mit dem Papiertheater hinreißend präsentieren. Es gibt auch jene, die auf die Technikkarte und auf perferkte Mitarbeiter (Mitspieler, Techniker, Toningenieure, professionelle Sprecher etc.) setzen. Es gibt auch welche, die mit den kleinsten Bühnchen große Wirkung erzielen. Es gibt welche, die improvisierend arbeiten. Es gibt welche, die selbst die Figuren und Bühnenbilder zeichnen. Es gibt welche, die die Stücke selbst schreiben. Es gibt welche, die alles allein machen und es gibt welche, die in großen Teams arbeiten. Ich glaube, wenn‘s circa 30 Menschen in Europa sind, die Papiertheater als Mittel des Figurentheaters und der Darstellung vor dem Publikum benutzen, werden es circa ebenso viele unterschiedliche Varianten sein, die hier zu  Einsatz kommen.“[13]


Es wäre spannend, einmal auszuschwärmen und diese heutigen Papiertheaterbühnen zu besuchen.


[1] Purschke, Hans R. (Hg.),  Das allerzierlichste Theater, München: Verlag Heimeran 1968. (Titel des Buches).
[2] Purschke, Vorwort. In: Das allerzierlichste Theater,  S. 7.
[3]  Siewert, Ernst, Doktor Faust. Ein Zauberstück in 4 Akten, Schreibers Kinder-Theater, 6. Heft,  Eßlingen und München: Schreiber 1878; S. 11.
[4] Kleist, Heinrich von, „Über das Marionettentheater“,  In: Das allerzierlichste Theater, München: Verlag Heimeran, 1968; Seite 63-70
[5] Ulrich Chmel, persönliche Mitteilung
[6] Der englische Papiertheater- Spezialist Georg Speight schreibt in seinem Buch “Juvenile Drama. The History of the English Toy Theatre”  (Orig. 1947): „But the Toy theatre was a very conservative theatre and it refused to move with the times; it was born in an age of melodrama and pantomime, of painted flats and side wings, and it would have nothing to do with any modern movements on stage. […] But though the theatre changed, the Toy Theatre never did.”
[7] Ulrich Chmel, persönliche Mitteilung
[8] siehe Aussage im Filmporträt: Ulrich Chmel Papiertheater  – Im Palast des großen Zauberers. 2011
[9]   ebd.
[10] Pflüger, Kurt / Helmut Herbst, Schreibers Kindertheater, Pinneberg: Verlag Renate Raecke 1986;  S. 12.
[11] Siewert, Ernst, Knecht Rupprecht. Ein Weihnachtsmärchen in 5 Akten, Schreibers Kinder-Theater, Eßlingen und München: Schreiber 1889; Schlussszene.
[12] Werner Knödgen meint, dass die Annäherung und das Gleichgewicht von Subjekt (Spieler) und Objekt (Figur) in der Aufführung vom Zuschauer als beglückend erlebt werden. siehe Knoedgen, Werner, Das Unmögliche Theater. Zur Phänomenologie des Figurentheaters, Stuttgart: Urachhaus 1990.
[13] Ulrich Chmel, persönliche Mitteilung



 [C1]Gerade bei diesem Stück verwende ich alte Nachdrucke, die ich aber leicht verändert habe. Nur das Schlussbild ist – wie Sie es erwähnen – von mir selbst gezeichnet.
 
 
Ich möchte Frau Inge Mansky sehr herzlich für die Genehmigung zur Veröffentlichung Ihres Texte danken und will dabei nicht vergessen darauf hinzuweisen, daß Frau Mansky im Rahmen ihrer Studien am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, die Arbeit DAS PAPIERTHEATER DES 19. JAHRHUNDERTS: SPIEL ODER THEATER verfaßt hat.


ERGÄNZENDE SZENENAUFNAHMEN




 

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